"Topologie der Erinnerung
The Netherlands Meets Bremen."

Die Butter und das Brot

Nach Jahren rief ich Angelo wieder einmal an; ich war weg gewesen. Er hatte einige Zeit in England gearbeitet und nun hatte man ihn gefragt, Konservator für eine Gemeinschaftsausstellung in Bremen zu sein. Zufällig war er schon eine Zeit lang auf der Suche nach einem Autor. Ich bin Dramatiker und habe aus diesem Grund ein herzliches Verhältnis zum Zufall, also sagte ich ihm, daß ich das gern für ihn tun würde. „Vielleicht ist dafür sogar etwas Geld übrig“, sagte er, warnender Code für : Denk` bloß nicht, dass Du dabei reich wirst. „Um was für Menschen geht es da?“ „Ich habe zusammen mit Henk Tausende Präsentationen durchsucht und angesehen, Menschen zu Rate gezogen. Wir haben „Bread and Butter“-Künstler gesucht, nicht die mit den großen Mäulern.“ „Die will ich gerne sprechen“, sagte ich.

Sehen mit Lust und Sehen mit Angst

„Wenn Du ein Porträt zeichnest und mit den Augen beschäftigt bist, dann ist da ein Augenblick, in dem das Porträt Dich auf einmal ansieht“, sagt Robert van Keppel während eines solchen Interviews. Wenn Sie diese Ausstellung besuchen, werden Sie zweifelsohne begreifen, wie intim seine Aussage ist. Es ist ein Augenblick, den er eigentlich nicht mit uns teilen kann, es ist eine Empfindung, die dem Künstler vorbehalten ist, ein essentieller Moment des Schaffensprozesses. Dennoch werden viele Mütter und Väter diesen Augenblick wiedererkennen, den Moment, in dem sie zum ersten Mal vermuten, dass ihr eigenes Kind sie erkennend anschaut.

Unser eigenes Kind können wir unbesorgt beobachten, studieren, wir können es anstarren. Es erfährt unseren Blick als beschützend. Aber das bleibt nicht so. Schneller als uns lieb ist verwandelt sich unser Schauen von genießendem in besorgtes, von bewunderndem in kritisches, und beginnt das Kind unseren Blick als einschränkend, als kontrollierend zu empfinden - und nicht grundlos. Wir, besorgt (auch nicht grundlos), lernen, es aus unseren Augenwinkeln zu beobachten wie auch unsere Eltern das lernten, weil wir ihren Blick nicht mehr akzeptierten. Starren ist von dem Moment an tabu.

Der Künstler durchbricht in unser aller Namen dieses Tabu. Er hat einen Menschen angestarrt, und der Mensch ließ sich von ihm anstarren, weil er ein Künstler ist. Wir posieren vor seinem Pinsel, vor ihrer Linse - so wie wir sein wollen. Beim Künstler liegt die Aufgabe, das Bild, das wir von uns schaffen, zu durchschauen und die Realität in uns zu berühren.
Das ist für den Künstler übrigens nicht ohne Risiko, denn diese Wirklichkeit läßt sich nicht gern anstarren, wird nur all zu oft aggressiv, erfährt das Starren als Eingriff und verändert sich, zieht Verteidigungswälle hoch, eben weil der Künstler mehr sieht als gesehen werden will.

Warum nimmt der Künstler dies alles auf sich? Weil dieses Starren die Sinne betört, sinnliche Lust bedeutet. Weil das Schaffen das Leben intensiviert, kurz: aus Wollust. „Wer nicht genießen kann, sollte besser kein Künstler werden“, sagen Steef van der Ende und Helena van der Kraan.

Das Werk des Künstlers, das Bild, durchbricht das Tabu zu starren noch mal: es beabsichtigt, angestarrt zu werden, will befragt werden. Es läßt sich sogar mit Wollust beschauen, weil es das Produkt von Lustgewinn ist, eines erotischen Schaffensprozesses: Die Farbe schläft mit der Leinwand, Farben dringen in Form ein, Licht befruchtet die Dunkelheit bis da ein Kind ist, das uns auf einmal ansieht.

Der Künstler bricht das Tabu zu starren, hat einen Weg gefunden, um das Starren zu legitimieren: Ich mache ein Kunstwerk. Ich richte meine Augen, meine Linse, mein Gehirn direkt auf die Wirklichkeit und das tue ich aus Lust. Die Wirklichkeit ist allein dazu da, von mir befruchtet zu werden und darum ist die Wirklichkeit erotisch.
Daß dieser intensive Blick auch kontemplativ sein kann, ändert nichts an der Sache: Regina Verhagen sucht Stille, Perfektion, Ruhe in der Form und in Worten und Zeichen in dieser Form so wie ein Teenager die Liebe am eigenen Leib entdeckt. Dass ihr Werk seinerseits dem Betrachter Ruhe spendet, empfindet sie als überraschende Nebensache. Der Betrachter, der ihr Werk an irgendeinem verlassenen Ort antrifft und sieht, empfängt ein Geschenk, das normalerweise Voyeuren vorbehalten ist.

Auf den direkten, genießenden Blick des Künstlers folgt fast unabwendbar die Angst. Die Angst vor dem, was wir sehen, vor der Verletzlichkeit, der chaotischen Kraft des Lebens in dem Neuen, das sich formt. Bilder in öffentlichen Räumen rufen Aggression hervor. Warum? Weil der nicht schöpferische Mensch dadurch begreift, was er verpasst, und der nicht schöpferische Mensch ist der Maßstab unserer Gesellschaft geworden.

Für den nicht schöpferischen Menschen ist Kontrolle des Chaos die einzige Art des Überlebens. Eine Wirklichkeit, die nicht vorhersehbar ist, ist darum gefährlich. Aber auch Kontrolle muß geschaffen werden, und die Schöpfer der Kontrolle sind die Wissenschaftler.
Auf den Blick des Künstlers folgt der Blick des Wissenschaftlers.

Freud schrieb in „Der Wahn und die Träume W. Jensens Gradiva“ über das Verhältnis von Wissenschaftlern zu Künstlern: „Wir schöpfen aus demselben Quell, behandeln dasselbe Objekt, jeder von uns mit einer anderen Methode, und die Tatsache, daß die Ergebnisse übereinstimmen, scheint dafür zu bürgen, daß wir beide auf die richtige Art und Weise zu Werke gegangen sind.“ Freud stellte in diesem Essay fest, dass der literarische Schriftsteller Jensen, der über die wissenschaftliche Traumtheorie nicht informiert war, dennoch dieselbe Auffassung wie der Wissenschaftler Freud zu besitzen schien.

Was Freud da feststellt, dazu noch beinahe intuitiv, ist, dass die Kunst der Wissenschaft vorausgeht. Wo die Kunst aus zeitlos sinnlichem Genuß heraus operiert, sich aus Liebe für ihr Subjekt die Wirklichkeit begierig aneignet, da folgt die Wissenschaft angsterfüllt: Angst vor dem Unbekannten, Angst davor, was das Kind tun wird, wenn es später größer und uns überflügeln wird. Für den Künstler mag dies ein ehrfurchtgebietender Traum sein, für den Wissenschaftler ist es ein Alptraum, den es unter Kontrolle zu bringen gilt: Kunst bleibt, behält ihren Wert, weil die Erotik zeitlos ist, aber die Wissenschaft stirbt fortwährend, weil sie permanent eingeholt wird von ihren eigenen Kindern, die sie ihrerseits als kindlich abtun.

Viel hat sich verändert, seit Freud seine Wirklichkeit observierte. Er war noch Künstler und Wissenschaftler zugleich, aber was er entdeckte ging seiner bürgerlichen Welt bis ins Mark: Man wagte den eigenen Kindern nicht einmal mehr in die Augen zu schauen. Seit seiner Zeit haben die Wissenschaftler die Künstler aus ihrer Mitte vertrieben und sie zum Objekt gemacht mit ihrem Streben nach Beherrschung, nach Zugriff auf die Wirklichkeit, nach Vorhersehbarkeit.

Wenn der Bildhauer Formen hackt aus Holz, aus Marmor, dann empfindet er keinen Hass gegenüber dem Material, das er weghackt: Er ist auf der Suche nach dem Bild, das in dem Material steckt. Die Fotografin auf der Suche nach dem Licht hasst die Dunkelheit nicht.

Wenn ein wissenschaftlich ausgebildeter Kurator ein Ausstellung zusammenstellt, dann richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf das, was er oder sie nicht aufnimmt; für tot erklärt.
Als Cathérine David, die Kuratorin der Documenta X, 1997 erläuterte, warum sie keine Malerei aufgenommen hatte, sagte sie: „Es tut mir leid, aber Malerei ist heute bestenfalls akademisch, schlechtestenfalls reaktionär.“
Es tat ihr natürlich insgesamt nicht leid: sie genoss diesen Moment, denn der Moment des Interviews war der Moment ihrer Wahrheit. Sie genoss die ihr gegebene Macht und nutzte sie, um das Material, das sie wegschnitt, für tot zu erklären. Diese Sorte Kuratoren zeigt nicht aus Genuss, sondern aus Angst: Die Künstler, die David jedoch zeigte, da konnte sie nicht umhin, die waren mächtiger als sie.
Diese Kulturwissenschaft ist wie der tödlich verängstigte Konsument, der das Gehirn und das Rückenmark aus der Kuh schneidet aus Angst vor BSE, das dort nur hineingekommen ist als Ergebnis seiner eigenen Freßsucht: das Fleisch muß vor allem sicher und billig sein. Ob es noch nach irgend etwas schmeckt, tut nicht zu Sache, dafür haben wir ja die Geschmacksstoffe im Bratfett. Wenn ein Kulturwissenschaftler Begriffe wie „Erneuerung“ und „beunruhigend“ in den Mund nimmt, macht er diese inhärent unschädlich indem er sie ausschließlich für auf die Form anwendbar erklärt. Damit nimmt er die Kunst aus der Gesellschaft und erklärt sie zu professionellem Spielzeug für eine freie Elite.

Als Tilman Rothermel, der Organisator dieser Ausstellungsreihe im Speicher, Angelo Evelyn fragte, Kurator zu sein für die Ausstellung, die Sie gleich sehen werden, wählte er explizit keine ,wissenschaftliche’ Herangehensweise. Angelo Evelyn ist ein Künstler, der in Amerika und Europa aufgewachsen ist und arbeitet. Angelo hat lange Zeit in Bremen gearbeitet, und arbeitet auch schon lange in den Niederlanden. Angelo hat für diese Aufgabe einen Kompagnon gesucht: Henk van Haar, ebenfalls Künstler und so ein scheinbar rostiger Niederländer - aber dann so einer aus Cortenstahl, beinahe ein Seebär, von dem man das Salzwasser meint ablecken zu können, würde er einen jemals so nahe an sich heranlassen. Angelo mit seiner erstaunt-schüchternenTristesse hat sein Gegenstück gesucht, verwurzelt im Boden des niederländischen Delta, und gemeinsam zeigen sie nun ihre Niederlande. Sie haben mit Wollust die Niederlande angestarrt, die Niederlande haben zurückgeguckt, und nun zeigen sie Ihnen ihre Niederlande.

Bei ihrer Auswahl spielt allein was da ist eine Rolle; sollten Sie nach dem Grund fragen, warum etwas nicht da ist, dann hat diese Frage dieselbe Bedeutung wie die Frage nach den Transformationen, die Bram van Waardenberg nicht gewählt hat: Die Identität entsteht erst nach der Auswahl, es gibt keine Identität die auswählt, es gibt keine Niederlande bevor eine Auswahl getroffen worden ist.

Tilman Rothermel hat, ich nehme an bewusst, keine akademische Herangehensweise gewählt. Nicht den sinnlosen Anspruch , ein ,objektives’ Bild von der niederländischen Kunst zu schaffen, und damit hat er Abstand genommen vom Machtwort, von der Kontrolle. Damit hat er das Leben gewählt nicht den Tod, Sex und nicht Unterdrückung. Und das heisst auch: Zukunft und nicht Vergangenheit.

Topographie der Erinnerung

Es erhebt sich die Frage: Steht das im Verhältnis zum Titel dieser Ausstellungsreihe „Topographie der Erinnerung“? Die Antwort läßt sich, so denke ich, auch in der Ausstellung finden: zum Beispiel im Werk von Robert Klatser: „Was ich schaffe ist die ,emotionale Nachbildung’, die Erinnerung.“ Ich starre sein Werk geschockt an. Das Bild, das dort gehangen hat, scheint dort gehangen zu haben, ich kann es beinahe sehen, ich weiss sicher, dass ich es gesehen habe, und ich kenne auch das Gefühl, das es mir gab, es liegt mir auf der Zunge - aber es ist nicht da. Beinahe schrieb ich: es ist nicht mehr da, aber dann weiss ich wieder, dass es niemals da gewesen ist: Woran ich mich erinnere, ist das Vergessen selbst.

Wir wissen heute, dass wir unsere Erinnerung schaffen. Historiker, die danach getrachtet haben, uns die ,objektive’ Wirklichkeit der Vergangenheit vorzusetzen haben sich einer nach dem anderen jämmerlich blamiert, ohne dass sich damit die Wirklichkeit, die wir hinter uns gelassen haben, verneinen läßt oder vergessen. Unsere Erinnerungen sind Konstruktionen im Jetzt, und jedes Kunstwerk schafft so eine Erinnerung.

In diesem Sinne haben Künstler großen Anteil an unserer Geschichte: Was Robert Klatser uns sehen läßt ist, dass jedes Kunstwerk tatsächlich die Schöpfung einer Erinnerung ist, stärker als tausend Ereignisse, die die Wirklichkeit uns täglich in einem nicht endenden Strom anbietet. Was wir von einem Kunstwerk, das uns ansprach, mitnehmen, ist die Erinnerung, und diese Erinnerung verbindet sich mit anderen Erinnerungen zu einem Bild, das uns etwas sagt, zu einem Gedächtnis, das einen Sinn hat oder sinnlos ist; und die Wahl liegt bei uns, weil wir unsere Erinnerung schaffen.
Es kommt nun darauf an, dass wir uns ein Gedächtnis schaffen, das uns Kraft gibt zu überleben, um unsere Zukunft in die Hand zu nehmen: Indem wir unser Gedächtnis erschaffen, erschaffen wir die Zukunft.

Helena van der Kraan, ,die große alte Dame’ der niederländischen Fotografie wie sie vom ,Nederlands Fotografie Instituut’ beschrieben wird, bekämpft ihren Zynismus über die Welt von Heute indem sie in ihrem Werk die Schönheit, die Menschlichkeit sucht, festlegt und beweist. Das ist eine Basis, die ihr, und durch ihre Kunst auch uns, das Recht - vielleicht selbst die Pflicht - gibt, fortzufahren einen Platz für den Menschen zu fordern - auch in der Zukunft. Das hat bei keinem der hier gezeigten Künstler jedoch einen aktivistischen Charakter. Ihr Engagement wehrt sich sogar beinahe gegen Enthüllung und bleibt am liebsten implizit. Diese Künstler vertrauen auf ihr Werk - und jeder von ihnen ist genügend Philosoph, um darüber mit Leidenschaft zu sprechen, wenn sich die Chance dazu ergibt.
 

Die Niederlande treffen Bremen.

Man kann die Niederlande auf verschiedene Weise wahrnehmen. Der historische Blick (Bauern, die ein Delta entwässerten, um da Landbau und Viehzucht zu betreiben, Käse und Tulpen zu exportieren) verdunkelt viel zu oft die Tatsache, dass die Niederlande schon lange kein kleines Land mehr sind, sondern gut und gern eine pränatale gigantische Stadt.

Die Niederlande sind nicht ein Rudiment des alten parzellierten Europa, sondern der Embryo einer großen urbanen Konzentration im Nordwesten Europas, eine Riesenstadt. Ein Hafen, eine Kreuzung, eine Agglomeration, die, wenn uns die Anzeichen nicht trügen, dieselbe Sogwirkung hat wie alle urbanen Gebiete.

In Dörfern und ländlichen Gegenden ist es oft möglich, Berufsgruppen und Familienverbindungen zur Deckung zu bringen: Die eine Familie bringt Bäcker hervor, die andere Zimmermänner und der Rest: das sind die Bauern.

In so einer Gemeinschaft weisen auch die Künstler Verwandtschaft auf, in ihrem Sein, also auch in ihrem Werk. Kaste oder Gilde: sie teilen einen Standard, den sie als universell ausgerufen haben aus Mangel an Möglichkeit (oder Notwendigkeit) nach mehr zu suchen.
Jawohl, es gibt zwar noch Familien dieser Art in den Niederlanden, die Überbleibsel der alten Dorfkultur, der Kultur der kleinen Schönheitsköniginnen und mit ihnen die veraltete Struktur kleiner alter Männer, die sich selbst in die Jurys ernannt haben als letzte Tat des Widerstandes gegen ihren nahenden Tod. Sie spielen das Spiel der Stars, der Kunst-Divas, das Spiel des Ausschlusses.

Aber in der Megalopolis, die am entstehen ist, zersplittert die alte Familienstruktur.
Wir sehen, dass die Künstler, die Angelo und Henk hier präsentieren, keine Familie sind. Sie leben, oft isoliert, in einer fragmentarisierten sozialen Struktur.

Platz und Funktion von Künstlern in der neuen Stadt sind ganz andere: Sie bauen die neue Stadt, indem sie ihr ein Gedächtnis geben. Steef van der Ende und Robert van Keppel legen in ihrem Werk explizit die Verbindung zu unserer Urgeschichte. Durch ihre Technik sehen sie sich als Erben jahrhundertealter Traditionen. Explizit benutzt van Keppel die Tradition als Trost, als Überlebenskraft in einer menschenfeindlichen Umgebung, genau so wie Helena van der Kraan, die in ihrer Kunst speziell die Zeitlosigkeit von Qualität betont.

Mama ist eine Gruppe in Rotterdam, die Ausstellungen betreut. Sie ist verantwortlich für das Entstehen der ,Artoonisten’, einer Arbeitsgemeinschaft von Hans van Bentem, Cirque de Pepin, Luuk Bode und DJ Chantelle. Einer der Gründer von Mama erzählt mir: „Ich weiß, dass an den Akademien momentan werdenden Künstlern beigebracht wird, dass sie erst allen Ballast aus der Vergangenheit abschütteln müssen, vergessen müssen. Dass sie ,rein’ an die Arbeit gehen müssen. Diese vier, die jetzt die ,Artoonisten’ sind, hatten miteinander gemein, dass sie das verweigerten, und das allein schon finde ich schön.“

Auch die ,Artoonisten’ verbinden sich mit der Vergangenheit, ihrer persönlichen Vergangenheit: Sie suchen nach dem Reichtum der in dem Detail, in dem Ornament gespeicherten menschlichen Liebe. Auch für sie ist das eine suchende Reise, denn in der modernen städtischen Architektur wird eben dieses Detail, die Bereicherung durch menschliche Aufmerksamkeit und Sorge, ,wegbereinigt’ und abgehackt. Angeblich auf der Suche nach der puren Essenz, aber in Wirklichkeit wegen der Sparmaßnahmen, die Bauunternehmer und Architekten durchführen müssen im Auftrag des blinden Größenwahns, der der eigentliche Schöpfer der Metropole ist. Sie sind sich einig, dass ein Ornament, das als Kompensation mitten in eine ,totentleerte’ Umgebung gesetzt wird, verwerflich ist, aber sie suchen nach einer Manier auf die sich ,Beachtung’ und ,Sehen’ wirklich in einem Entwurf finden und diesen bereichern, sie suchen nach dem Ornament, das der entleerten Umgebung Leben gibt.

Für die Bewohner der entstehenden Metropole sind Grenzen irrelevant geworden, die Welt ist eine Reihe von Städten, durch Parks voneinander getrennt. In dieser Welt ist die Inspiration universell und gibt es kein Ikoneneigentum.
So universell wie die Artoonisten mit ihrem Erbe arbeiten, das sie aus der ganzen Welt empfangen, so arbeitet auch Steef van der Ende mit Inspiration, die Puristen lieber auf Afrika begrenzt sehen möchten, und umgekehrt arbeiten mit unseren Ikonen Menschen, die Puristen als Außenstehende abstempeln möchten. Kaoru Yamamoto’s Verhältnis zu Ophelia aus Hamlet ist intimer als das vieler Shakespeare-Kenner, und sie verbindet sie mit Themen wie Wasser und Farbe in einer Landschaft, die Melancholie, Heimweh nach der Zukunft ausdrückt. Genauso wie die Artoonisten steht sie in direkter Verbindung mit dem jüngsten Publikum, das in den Diskotheken tanzt, in denen sie Video-Jockey ist. Und genauso wie der DJ hat sie nicht die Kontrolle: Sie sorgt für einen essentiellen Aspekt des Seins der Tänzer; des Publikums, das tanzt. Ihre Bilder sind eine Verlängerung des Tanzes, der Musik und werden auch augenblicklich wieder vom Tanz aufgesogen. Weder die Artoonisten noch sie haben irgendeinen Vorbehalt gegenüber dem tanzenden Publikum. Sie definieren sie nicht als Menschen, die versuchen der tödlichen Existenz zu entkommen, sondern umgekehrt als Menschen, die gerade, und allein in diesem Moment, existieren. Das sind die neuen Bewohner der Megalopolis, sie, die leben, um zu tanzen. An diesem Dasein haben sie ihren Anteil so wie auch der Bäcker und der Milchmann daran ihren Anteil haben: Sie sind auf ihre Art die Butter und das Brot im Leben ihres Publikums.

Die Megastadt entwickelt sich nach einem chaotischen Muster, worin sich identische oder beinahe identische Strukturen aneinanderreihen und verdichten, sowie die Fünfecke von Van Waardenberg. In seinem Werk sehen wir eine Metapher für das Leben selbst. Die mathematische Grundlage und die mathematische Notwendigkeit sind darin beinahe winzige Zwischenfälle verglichen mit dem Maßstab und der Macht des Zufalls und dem damit vergleichbaren menschlichen Eingreifen. Van Waardenberg strömt als Künstler hinüber in angrenzende Disziplinen, Musik, Tanz, Plastik und stets ist da der Moment in dem die Notwendigkeit übergeht in Willkür, der Moment in dem die Freiheit übergeht, in die Wahl und dadurch in Identität, in Wiedererkennbarkeit.

An dieser selben Grenze arbeitet auch Lieselot IJsendoorn. Ihr Medium ist nicht nur modern, Video, Computergraphik, sondern auch, oder eher noch: die Natur selbst. Sie manipuliert die Natur so wie Naturfilmer das auch tun, aber sie trachtet danach, die Manipulation nicht nur sichtbar, sondern selbst zum Gegenstand ihres Werkes zu machen. Die Superstadt unterscheidet sich aus der Ferne gesehen wenig von einem Ameisenhaufen oder einem Bienenkorb, doch sie unterscheidet sich davon so wie sich Ameisen und Bienen voneinander unterscheiden: Der Mensch ist ein anderes Tier. Die Natur hat in ihrem Werk ihre übertriebene Heiligkeit, uns überliefert durch die religiöse agrarische Gemeinschaft und durch dieselbe Gemeinschaft ermordet, verloren. Lieselot IJsendoorns Inspiration, eine Verbundenheit mit der Natur, demonstriert eine neue Identifikation an Greenpeace vorbei; aus der Einsicht heraus, dass der Mensch dabei ist zu realisieren, daß er relativ ist und nicht die Natur. Dass die Natur der Kultur nicht entgegengesetzt ist: Wir sind eine Plage, so wie es viele Plagen in der Natur gibt, so wie Plagen natürlich sind.

Diese Künstler sind keine Familie und auch bei weitem nicht immer einer Meinung. Wer sucht, wird auch die Spannungen antreffen, die verschiedenen Extreme auf den Koordinatenachsen unseres Denkens und Fühlens. Wo Helena van der Kraan und Regina Verhagen diese Zeit beinahe als apokalyptisch betrachten, sehen die Artoonisten und Kaoru Yamamoto beinahe buddhistisch den Weg der Mitte. Wo die Artoonisten das reiche Detail suchen, da sucht Robert Klatser die Grenze zur definitionslosen Leere. Aber: ist das überhaupt ein Gegensatz? Klatser hat eine Abscheu gegen das, was er das ,Verschönern’ des öffentlichen Raumes nennt. Er liebt die Leere, aber was ist genau der Unterschied zwischen definierter und definitionsloser Leere? Letztendlich können sie nicht ohne das Publikum, ohne Sie, die über diese Fragen nachdenken.

Die Niederlande sind eine neue, große Stadt am Anfang der Geschichte.
In dieser Struktur ist Aussperrung nicht länger sinnvoll oder gar nur von Belang, weil dort zahlreiche Strukturen nebeneinander und durch einander bestehen können, aber die neue Stadt ist erst ein Embryo, und die Menge der Strukturen ist noch lange keine Gegebenheit.
Die Künstler, die Sie hier auf dieser Ausstellung vorfinden, mögen es, über ihr Werk zu sprechen und nachzudenken. Die Gespräche, die ich mit ihnen hatte, hatten viel von den Gesprächen, die ich früher mit Kollegen in Deutschland hatte, leidenschaftlich auf eine bescheidene, kontrollierte Art und Weise, nach Understatements suchend, tiefschürfend. Es waren Gespräche mit Menschen, die ihre Kunst in aller Bescheidenheit unter das Licht der Entwicklung, der Verbesserung, der Bereicherung der Umgebung stellen. Das sind die Arbeiter, die den Reichtum des Zusammenlebens bestimmen, die unserer Erinnerung Macht geben, indem sie uns vor die Wahl stellen.
Sie leben hin auf die Geburt der neuen Stadt, sie sind die DNS der neuen Strukturen, aber die Strukturen kommen erst zur Entwicklung in der Materie des Zusammenlebens, durch die Begegnung mit Ihnen und mit der Künstlergemeinschaft, die auch in Bremen dabei ist sich zu bilden.
Diese Künstler hoffen, für Sie wichtig sein zu können, wenn Sie diese Wahl treffen, aber auf jeden Fall sind Sie essentiell für diese Künstler.

Marc-Jan Trapman
Topologie der Erinnerung

übersetzung: Tanja Kuhn


Index